Kreative Reizüberflutung

Künstlertreff zur Creativa Messe 2023 in Dortmund

  • 9 Min. Lesezeit
  • 17. März 2023
  • Sonja

Erfahrungsbericht meines Besuchs der Creativa Messe 2023 als Künstlertreff. 

Die Creativa Messe findet jährlich in Dortmund statt und ist die perfekte Anlaufstelle für kreative Menschen. Hier gibt es allerlei handwerklich-kreative Dinge zu sehen und zu kaufen. Hier findest du meine Erfahrungen zur Creativa Messe 2023. 

Wo soll ich anfangen? Schon von all den Notizen, die ich mir in einer kleinen Ecke meines Gehirns gemacht habe, bin ich reizüberflutet. Erinnerungen leuchten in mir auf wie Blitzlichtgewitter, mal hier mal da, mal der Zitronen-Auspresser, dann der Stand mit den Kinder-Fotografien, mal die drehende Bewegung der Spinnräder, dann das hämmernde Geräusch der amerikanischen Stickmaschine. Ich versuche dennoch, meine Erinnerungsbilder zu sortieren und beim Anfang zu starten.

Eine unvorhersehbare Begegnung

Mein Erlebnis der Creativa Messe beginnt, als ich am Dortmunder Hauptbahnhof die Toiletten suche – was an großen Bahnhöfen ja immer so eine Sache ist. Als ich endlich die richtige Richtung einschlage, stehe ich desorientiert zwischen der Treppe zur Toilette und dem ehemaligen Eingang zum U-Bahn-Gleis, der durch mehrere Bauzäune und eine riesige Plane abgesperrt ist. Noch bevor ich das alles richtig wahrnehmen kann, werde ich von einer Frau mittleren Alters angesprochen: „Entschuldigung, kennen Sie sich hier aus?“

„Nee, eigentlich nicht.“ 

„Wollen Sie auch zur Creativa?“, entgegnet sie und trifft damit genau ins Schwarze.

Ich bejahe, und so einigen wir uns schnell darauf, gemeinsam zum Messegelände zu fahren. Der Weg zum richtigen U-Bahn-Eingang verläuft dann ohne größere Komplikationen: Ich mache mir endlich meine Großstadterfahrung zunutze und folge mit Susanne dem bunten Umleitungs-Streifen, der auf dem Boden klebt. 

 

Wie das so ist, kommen Susanne und ich in der U45 ins Gespräch und lernen uns näher kennen. Susanne kommt aus einer Kleinstadt in Bayern, übernachtet während der Creativa bei einer Freundin in Essen und gießt nebenberuflich verschiedenste Objekte aus Beton. Auf dem Handy zeigt sie mir Bilder von ihren Figuren und erzählt mir dabei von dem Schränkle, in dem sie ihre Werke ausstellt und auf Vertrauensbasis verkauft. Einfach Su heißt es – ein schöner Name, wie ich finde. Allgemein ist spannend, was sie erzählt, da ich die kreative Arbeit mit Beton vorher überhaupt nicht kannte. Während Susanne und ich dem kleinen Menschenstrom weiter in Richtung Westfalenhallen folgen und unserem Ziel näherkommen, unterhalten wir uns über alles Mögliche. Am Messegebäude angekommen, tauschen wir dann auch direkt Nummern aus und vereinbaren, uns für die Rückfahrt am Eingang wiederzutreffen. Anfangs erkunden wir einige der Stände noch zusammen, lösen uns jedoch recht schnell voneinander und freuen uns darauf, in unserem ganz eigenen Tempo die vielen Aussteller in den insgesamt vier Hallen zu erkunden. 

Mein Gesamteindruck der Creativa Messe

Obwohl ich nicht immer genau weiß, in welcher Halle ich mich befinde, habe ich mir schnell einen Überblick über die Messe verschafft: In Halle 4 dreht sich bei den meisten Ausstellern alles rund um Stoffe, Wolle und Handarbeiten. Es gibt außerdem einen Modedesign-Bereich mit einer Bühne, auf der diverse Shows und Vorträge (darunter auch Modenschauen) stattfinden. In der nächsten Halle ist überwiegend Schmuck und Schmuckzubehör zu sehen, bis das Ganze relativ plötzlich in den Verkauf diverser Haushaltswaren und kulinarischer Spezialitäten übergeht, die meiner Ansicht nach kaum etwas mit dem Kreativitätsmotto der Messe zu tun haben. In den späteren Hallen (Halle 6 und 7) verlagert sich der Schwerpunkt wieder auf das Malen und Basteln: So gibt es eine große Fläche mit Airbrush-Künstlern, offene Kreativlounges für die Besucher und selbstverständlich noch mehr Verkaufsstände – mit Spielen, Pinseln, Stempeln, Dekorationen und, und, und…

Obwohl das alles sehr interessant ist, finde ich es schade, dass die Creativa im Wesentlichen auf den Verkauf ausgerichtet ist. Zwar müssen sich die Messe und ihre Ausstellenden finanzieren, dennoch habe ich darauf gehofft, etwas mehr Einblick in die kreative Arbeit zu erhalten. Einige der Aussteller wirken sogar regelrecht verschlossen und geben nur wenige Informationen zu ihrer kreativen Arbeit. Basierend auf diesem Schwerpunkt des Verkaufs bieten die meisten Stände außerdem eher ‚vorgefertigte Kreativität‘ in Form von Bastelsets, Stempeln, Taschen, Kleidern und Puzzles an, die für mich zu wenig Raum für die eigene Fantasie lassen. Eine etwas aktivere und schaffenskräftigere Atmosphäre könnte mich stärker inspirieren.

Zur Verteidigung: Die Vielzahl an Ständen, Menschen und Materialien vor Ort löst in mir sehr schnell eine Reizüberflutung aus, sodass ich vor lauter Eindrücken teilweise blind durch die Gänge wandele. Meine Konzentration ist also nach zwei Stunden Messe schon am Limit, wodurch ich einige interessante Aussteller vielleicht einfach übersehe. Dennoch: der ein- oder andere Stand zieht mich in seinen Bann und kann genau die kreativen Kräfte in mir hervorrufen, die ich mir gewünscht habe. In diejenigen, die mich am meisten faszinieren, gewähre ich nun einen kleinen Einblick.  

Selbst gesponnene, gefärbte und gestrickte (Schafs)Wolle

Durch Zufall lande ich bei einem Ausstellungsbereich, in dem mehrere Frauen an ihren Spinnrädern sitzen und mit Hand und Fuß Schafswolle spinnen. Hier halte ich an und lausche gespannt einer jungen Frau, die selbstgestrickte Pulswärmer sowie eine Weste aus Schafswolle trägt und lebhaft von ihrer Arbeit erzählt. Mir und zwei anderen Zuhörerinnen erklärt sie, dass sie die Wolle bewusst unregelmäßig spinnt, damit das künftige Strickprojekt eine schöne Struktur erhält. Ihre Augen leuchten, als sie von der Haptik ihrer selbstgemachten Weste erzählt.

Angetrieben durch ihre Erzählungen denke ich darüber nach, wie sehr wir Menschen die Verbindung zu der Arbeit verloren haben, die in unseren Besitztümern steckt. Diese Frau am Spinnrad weiß genau, was es bedeutet, in einem langwierigen Prozess die Schafswolle zu spinnen, sie gegebenenfalls zu färben und dann zu einem Pullover zu verarbeiten. Sie behandelt diesen Pullover mit Sorgfalt, weil sie weiß, wie viel dahintersteckt. Für sie ist er etwas Besonderes, und sie wird ihn für immer flicken und schützen. Auch weiß sie um die guten Eigenschaften der Wolle – wie geruchsneutral sie ist, wie schmutzabweisend, wie robust und warm. Sie weiß, dass frisch geschorene Schafswolle von Australien aus bis nach Deutschland geflogen wird, während Schäfer in Deutschland ihre geschorene Wolle in der Erde vergraben, weil sie keine Verwendung dafür haben. 

Heutzutage passiert es schnell, dass wir den Kontakt zur Welt verlieren. Viele von uns arbeiten den ganzen Tag – meistens, um uns den Pullover kaufen zu können, statt ihn selbst herzustellen. Mir wird klar: Selbermachen bedeutet, wieder wertzuschätzen.

Stick-Kunst von Diana Lehmann

Als ich mir eigentlich schon eine Pause von meinen Eindrücken gönnen möchte, zieht eine auf den ersten Blick recht unauffällige Ausstellerin meine Aufmerksamkeit auf sich. Ihr Stand ist minimalistisch gehalten: Vorne sitzt sie und stickt konzentriert an einem neuen Werk, während im Hintergrund ihre Stick-Gemälde wie in einer Galerie an den Wänden angebracht wurden. Neben ihr hängen außerdem ein paar Werke, die etwas mehr im Vordergrund stehen – es sind auf durchscheinendem Tüll aufgestickte Wiesenblumen.  

Diana Lehmann hat ein einladendes Lächeln auf den Lippen und bietet mir an, hereinzutreten und mir die Werke näher anzuschauen. Um ganz ehrlich zu sein, ist ihre Ausstellung die erste, die mich auf dieser Messe so wirklich beeindruckt – das ist Kunst!

Einige ihrer gestickten Bilder sind von anderen, bekannten Künstlern inspiriert: So sieht man Motive angelehnt an Gustav Klimt und Vincent van Gogh. Dann gibt es noch eine Reihe von antiquarischen Postkarten-Motiven, die die Künstlerin mithilfe ihres Stickgarns auf fantasievolle Weise verschönert: So wird aus einem spießigen Kirchturm-Dorf eine orientalische Stadt mit fliegendem Teppich und aus einem strengen Offizier der stolze Träger eines Obstkorb-Hutes. Diana Lehmann hat einen ganz neuen Zugang zum Sticken gefunden – abseits von Tischdecken und Kissenbezügen. Das ist nicht nur unfassbar kreativ, sondern eine ganz eigene Kunstform.

Pausenhof: Basteltüten, Pommes & Co.

Bei meiner ersten Pause treffe ich wie von Zauberhand Susanne am Pommesstand wieder (unsere Begegnung war wohl vorbestimmt) und wir tauschen uns über unsere bisherigen Erlebnisse aus. In meiner zweiten Pause bin ich allein und setze mich nach draußen auf eine Art Innenhof zwischen zwei Hallen. Dort gibt es neben mehreren Buden mit Essen und Getränken weitere Menschentrauben, die sich auf dem karg aussehenden Platz zwischen den Gebäuden verteilen: Sie sitzen auf den Mauern und dem Asphalt. Ich selbst habe mir eine schmale Mauer auserkoren und sitze einer Mutter gegenüber, die mit ihrer kleinen Tochter telefoniert – das Mädchen beschwert sich offenbar darüber, dass sie in der Schule einen anstrengenden Tag hatte, woraufhin die Mutter sie mit der Aussicht auf eine Überraschungs-Basteltüte tröstet. Mein inneres Kind denkt neidisch: Ich will auch eine Überraschungs-Basteltüte!  

Über Tellerreiben,  Zitronenstöpsel und Staubwedel

Die Haushaltswaren sind nochmal ein ganz eigenes Terrain. Ich komme an einem Stand vorbei, an dem spezielle Teller verkauft werden, die gleichzeitig eine Reibe sind. Dort spricht mich sogleich eine Besucherin an und wirbt anstelle der Verkäuferin für die Keramikteller: Die sind einfach super, die muss man haben, mal schnell Parmesan reiben – kein Problem! Durch das Reiben kommt das Aroma noch intensiver hervor, Knoblauch, Zitronen, alles, einfach drauflos, und so leicht zu reinigen der Teller, einfach prima, klare Kaufempfehlung. Währenddessen lächelt mich die Verkäuferin an: Zumindest hat sie sich ein Verkaufsgespräch gespart.

Ich gehe ein paar Gänge weiter und lande bei einem Stand voller Bürsten und Staubwedel. Die Verkäuferin wiederholt immer wieder die gleichen Phrasen, man muss nur lange genug dort stehen bleiben: Ein Staubwedel aus Straußenfedern hält den Staub viel besser als jeder Swiffer, einmal draußen ausklopfen, kein Problem. Der Swiffer dagegen verteilt Staub eher, denn die Struktur der Kunstfasern ist nicht so fein verästelt wie jene der Federn aus Naturfasern. Auch Ziegenhaare sind super gegen Hausstaub – rundum an langen Stäben befestigt werden sie zum perfekten Reiniger für Staub hinter den Heizungen. Weniger Staub gleich bessere Heizleistung. Eine Anschaffung fürs Leben! Nie wieder Swiffer kaufen!   

Mich überzeugt sie. Hätte ich mehr Geld, ich hätte sofort einen Straußen-Staubwedel gekauft. Vielleicht könnte ich mir damit ersparen, meine Oberflächen mit dem feuchten Mikrofasertuch abzuwischen. Swiff swiff, aber ohne Umweltverschmutzung. Und ohne dass es uns all Staub nimmt, der im Sommer so romantisch durch die Luft schwebt und glitzert, wie wenn im Theater ein Scheinwerferlicht die Dunkelheit durchbricht. 

Der letzte bemerkenswerte Aussteller ist der – wie ich ihn taufe – Zitronenstöpsel-Stand. Auch hier ertönt wieder dieser Loop aus Verkaufsphrasen. Plötzlich fühle ich mich, als wäre ich in eine Tupperparty eingetaucht. Oder in eine Hausfrauen-Werbung der 50er Jahre. Überall um mich herum stehen Frauen mittleren Alters, irgendwie ein komisches Klischee, aber hier in der Haushaltswarenabteilung erscheint mir das noch viel evidenter zu sein als in den anderen Bereichen der Messe. Andererseits stehe ich ja auch hier und finde es unterhaltsam anzuhören, was der Mann zu dem Zitronenstöpsel zu sagen hat.

Der Zitronenstöpsel: Er ist geformt wie ein Stöpsel, nur dass oben ein kleiner Klappdeckel angebracht ist. Anhand einer echten Zitrone demonstriert der Verkäufer, dass er den Stöpsel einfach nur an der Blütenseite der Frucht eindreht wie eine Schraube: Stöpsel drehen, bis es nicht weitergeht, danach Deckel aufklappen und Zitronensaft – ganz ohne Kerne – ausgießen, so viel wie benötigt. Wenn fertig – einfach Deckel zuklappen. Kinderleicht. Zitrone bleibt tagelang frisch, weil sie ja nicht aufgeschnitten, sondern nur eingedreht wurde. Stöpsel bleibt einfach stecken, bis Zitrone leer ist. Wie eine dieser zitronenförmigen Plastikflaschen, die es im Supermarkt gibt. Nur mit echter Zitrone.

Als der Loop wieder von vorne beginnt, gehe ich weiter und beobachte noch viele andere wundersame Dinge. Manchmal darf ich auch was probieren. Aber eigentlich will ich weitergehen.

Glas-Mosaik selbst legen

Dieser Artikel ist nun genauso überwältigend lang geworden, wie die Messe mir vorgekommen ist. Aber keine Sorge, wir sind nun am letzten Stand angekommen, der mich begeistern kann: Der Aussteller mit den Glas-Mosaiken. Am liebsten würde ich hier einen Workshop mitmachen, doch ich bin müde, habe nicht mehr viel Zeit und möchte ja eigentlich auch keinen vorgefertigten Glas-Schmetterling machen, sondern lieber ein ganz eigenes Motiv zaubern. Und im Grunde bin ich schon fasziniert, als ich nur ein Beutelchen in die Hand nehme, das bis zum Rand mit bunten Glasscherben gefüllt ist. Sofort bekomme ich Lust, die bunten Plättchen zu einem kleinen Kunstwerk zurechtzulegen.

Ich lasse mich also ausführlich von einem älteren Herrn beraten: Er erzählt mir etwas über das Mosaik-Handwerk, die Tiffany-Glas und über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten beim Legen von Glas-Mosaiken. Die Utensilien sind – bis auf das Werkzeug zum Schneiden von Glas – nicht teuer, sodass ich mir eine Art Starter-Set zusammensuche und mich tierisch darauf freue, zuhause direkt loszulegen.  

Nach der Messe ist vor der Messe

Die Rückfahrt gemeinsam mit Susanne ist kurzweilig. „Lass dich drücken!“, sagt sie, als wir am Essener Hauptbahnhof ankommen. Auf die Idee hätte ich auch kommen können! Wir verabschieden uns also mit einem beherzten Drücker voneinander, bevor sich unsere Wege trennen. Die unerwartete Begegnung mit ihr war sehr schön und ich glaube, wir gehen beide inspiriert nach Hause. Susanne hat für den nächsten Tag sogar noch eine Eintrittskarte.

Ich für meinen Teil bemerke vor allem im Nachhinein, wie inspirierend die Messe tatsächlich ist – schon allein dadurch, dass man so unendlich viele Eindrücke sammelt. Die Creativa hat trotz des Schwerpunktes auf dem Verkauf etwas sehr Tatkräftiges: Die Leute vor Ort erschaffen etwas, arbeiten mit verschiedenen Materialien und setzen ihre Ideen in die Tat um. Das macht mir unfassbar viel Lust darauf, selbst tätig zu werden: Neues auszuprobieren und meine Eindrücke zu verarbeiten.

Nächstes Jahr möchte ich erneut herkommen. Und da ich diesmal weiß, was mich erwartet, kann ich viel gezielter an mein Erlebnis herangehen und das mitnehmen, was mich am meisten inspiriert. 

Künstlertreff zur

Creativa Messe 2023 in Dortmund

Wo soll ich anfangen? Schon von all den Notizen, die ich mir in einer kleinen Ecke meines Gehirns gemacht habe, bin ich reizüberflutet. Erinnerungen leuchten in mir auf wie Blitzlichtgewitter, mal hier mal da, mal der Zitronen-Auspresser, dann der Stand mit den Kinder-Fotografien, mal die drehende Bewegung der Spinnräder, dann das hämmernde Geräusch der amerikanischen Stickmaschine. Ich versuche dennoch, meine Erinnerungsbilder zu sortieren und beim Anfang zu starten.

 

Eine unvorhersehbare Begegnung

Mein Erlebnis der Creativa Messe beginnt, als ich am Dortmunder Hauptbahnhof die Toiletten suche – was an großen Bahnhöfen ja immer so eine Sache ist. Als ich endlich die richtige Richtung einschlage, stehe ich desorientiert zwischen der Treppe zur Toilette und dem ehemaligen Eingang zum U-Bahn-Gleis, der durch mehrere Bauzäune und eine riesige Plane abgesperrt ist. Noch bevor ich das alles richtig wahrnehmen kann, werde ich von einer Frau mittleren Alters angesprochen: „Entschuldigung, kennen Sie sich hier aus?“

„Nee, eigentlich nicht.“ 

„Wollen Sie auch zur Creativa?“, entgegnet sie und trifft damit genau ins Schwarze. Ich bejahe, und so einigen wir uns schnell darauf, gemeinsam zum Messegelände zu fahren. Der Weg zum richtigen U-Bahn-Eingang verläuft dann ohne größere Komplikationen: Ich mache mir endlich meine Großstadterfahrung zunutze und folge mit Susanne dem bunten Umleitungs-Streifen, der auf dem Boden klebt. 

Wie das so ist, kommen Susanne und ich in der U45 ins Gespräch und lernen uns näher kennen. Susanne kommt aus einer Kleinstadt in Bayern, übernachtet während der Creativa bei einer Freundin in Essen und gießt nebenberuflich verschiedenste Objekte aus Beton. Auf dem Handy zeigt sie mir Bilder von ihren Figuren und erzählt mir dabei von dem Schränkle, in dem sie ihre Werke ausstellt und auf Vertrauensbasis verkauft. Einfach Su heißt es – ein schöner Name, wie ich finde. Allgemein ist spannend, was sie erzählt, da ich die kreative Arbeit mit Beton vorher überhaupt nicht kannte. Während Susanne und ich dem kleinen Menschenstrom weiter in Richtung Westfalenhallen folgen und unserem Ziel näherkommen, unterhalten wir uns über alles Mögliche. Am Messegebäude angekommen tauschen wir dann auch direkt Nummern aus und vereinbaren, uns für die Rückfahrt am Eingang wiederzutreffen. Anfangs erkunden wir einige der Stände noch zusammen, lösen uns jedoch recht schnell voneinander und freuen uns darauf, in unserem ganz eigenen Tempo die vielen Aussteller in den insgesamt vier Hallen zu erkunden. 

 

Mein Gesamteindruck der Creativa

Obwohl ich nicht immer genau weiß, in welcher Halle ich mich befinde, habe ich mir schnell einen Überblick über die Messe verschafft: In Halle 4 dreht sich bei den meisten Aussteller alles rund um Stoffe, Wolle und Handarbeiten. Es gibt außerdem einen Modedesign-Bereich mit einer Bühne, auf der diverse Shows und Vorträge stattfinden (darunter auch Modenschauen). In der nächsten Halle ist überwiegend Schmuck und Schmuckzubehör zu sehen, bis das Ganze relativ plötzlich in den Verkauf diverser Haushaltswaren und kulinarischer Spezialitäten übergeht, die meiner Ansicht nach kaum etwas mit dem Kreativitätsmotto der Messe zu tun haben. In den späteren Hallen (Halle 6 und 7) verlagert sich der Schwerpunkt wieder auf das Malen und Basteln: So gibt es eine große Fläche mit Airbrush-Künstlern, offene Kreativlounges für die Besucher und selbstverständlich noch mehr Verkaufsstände – mit Spielen, Pinseln, Stempeln, Dekorationen und, und, und…

Obwohl das alles sehr interessant ist, finde ich es schade, dass die Creativa im Wesentlichen auf den Verkauf ausgerichtet ist. Zwar müssen sich die Messe und ihre Ausstellenden finanzieren, dennoch habe ich darauf gehofft, etwas mehr Einblick in die kreative Arbeit zu erhalten. Einige der Aussteller wirken sogar regelrecht verschlossen und geben nur wenige Informationen zu ihrer kreativen Arbeit. Basierend auf diesem Schwerpunkt des Verkaufs bieten die meisten Stände außerdem eher ‚vorgefertigte Kreativität‘ in Form von Bastelsets, Stempeln, Taschen, Kleidern und Puzzles an, die für mich zu wenig Raum für die eigene Fantasie lassen. Eine etwas aktivere und schaffenskräftigere Atmosphäre könnte mich stärker inspirieren.

Zur Verteidigung: Die Vielzahl an Ständen, Menschen und Materialien vor Ort löst in mir sehr schnell eine Reizüberflutung aus, sodass ich vor lauter Eindrücken teilweise blind durch die Gänge wandele. Meine Konzentration ist also nach zwei Stunden Messe schon am Limit, wodurch ich einige interessante Aussteller vielleicht einfach übersehe. Dennoch: der ein- oder andere Stand zieht mich in seinen Bann und kann genau die kreativen Kräfte in mir hervorrufen, die ich mir gewünscht habe. In diejenigen, die mich am meisten faszinieren, gewähre ich nun einen kleinen Einblick.  

 

Selbstgespinnte, gefärbte, gestrickte (Schafs)Wolle

Durch Zufall lande ich bei einem Ausstellungsbereich, in dem mehrere Frauen an ihren Spinnrädern sitzen und mit Hand und Fuß Schafswolle spinnen. Hier halte ich an und lausche gespannt einer jungen Frau, die selbstgestrickte Pulswärmer sowie eine Weste aus Schafswolle trägt und lebhaft von ihrer Arbeit erzählt. Mir und zwei anderen Zuhörerinnen erklärt sie, dass sie die Wolle bewusst unregelmäßig spinnt, damit das künftige Strickprojekt eine schöne Struktur erhält. Ihre Augen leuchten, als sie von der Haptik ihrer selbstgemachten Weste erzählt.

Angetrieben durch ihre Erzählungen denke ich darüber nach, wie sehr wir Menschen die Verbindung zu der Arbeit verloren haben, die in unseren Besitztümern steckt. Diese Frau am Spinnrad weiß genau, was es bedeutet, in einem langwierigen Prozess die Schafswolle zu spinnen, sie gegebenenfalls zu färben und dann zu einem Pullover zu verarbeiten. Sie behandelt diesen Pullover mit Sorgfalt, weil sie weiß, wie viel dahintersteckt. Für sie ist er etwas Besonderes, und sie wird ihn für immer flicken und schützen. Auch weiß sie um die guten Eigenschaften der Wolle – wie geruchsneutral sie ist, wie schmutzabweisend, wie robust und warm. Sie weiß, dass frisch geschorene Schafswolle von Australien aus bis nach Deutschland geflogen wird, während Schäfer und Schäferinnen in Deutschland ihre geschorene Wolle in der Erde vergraben, weil sie keine Verwendung dafür haben. 

Heutzutage passiert es schnell, dass wir den Kontakt zur Welt verlieren. Viele von uns arbeiten den ganzen Tag – meistens, um uns den Pullover kaufen zu können, statt ihn selbst herzustellen. Mir wird klar: Selbermachen bedeutet, wieder wertzuschätzen.

 

Stick-Kunst von Diana Lehmann

Als ich mir eigentlich schon eine Pause von meinen Eindrücken gönnen möchte, zieht eine auf den ersten Blick recht unauffällige Ausstellerin meine Aufmerksamkeit auf sich. Ihr Stand ist minimalistisch gehalten: Vorne sitzt sie und stickt konzentriert an einem neuen Werk, während im Hintergrund ihre Stick-Gemälde wie in einer Galerie an den Wänden angebracht wurden. Neben ihr hängen außerdem ein paar Werke, die etwas mehr im Vordergrund stehen – es sind auf durchscheinendem Tüll aufgestickte Wiesenblumen.  

Diana Lehmann hat ein einladendes Lächeln auf den Lippen und bietet mir an, hereinzutreten und mir die Werke näher anzuschauen. Um ganz ehrlich zu sein, ist ihre Ausstellung die erste, die mich auf dieser Messe so wirklich beeindruckt – das ist Kunst!

Einige ihrer gestickten Bilder sind von anderen, bekannten Künstlern inspiriert: So sieht man Motive angelehnt an Gustav Klimt und Vincent van Gogh. Dann gibt es noch eine Reihe von antiquarischen Postkarten-Motiven, die die Künstlerin mithilfe ihres Stickgarns auf fantasievolle Weise verschönert: So wird aus einem spießigen Kirchturm-Dorf eine orientalische Stadt mit fliegendem Teppich und aus einem strengen Offizier der stolze Träger eines Obstkorb-Hutes. Diana Lehmann hat einen ganz neuen Zugang zum Sticken gefunden – abseits von Tischdecken und Kissenbezügen. Das ist nicht nur unfassbar kreativ, sondern eine ganz eigene Kunstform.

 

Pausenhof: Basteltüten, Pommes & Co.

Bei meiner ersten Pause treffe ich wie von Zauberhand Susanne am Pommesstand wieder (unsere Begegnung war wohl vorbestimmt) und wir tauschen uns über unsere bisherigen Erlebnisse aus. In meiner zweiten Pause bin ich allein und setze mich nach draußen auf eine Art Innenhof zwischen zwei Hallen. Dort gibt es neben mehreren Buden mit Essen und Getränken weitere Menschentrauben, die sich auf dem karg aussehenden Platz zwischen den Gebäuden verteilen: Sie sitzen auf den Mauern und dem Asphalt. Ich selbst habe mir eine schmale Mauer auserkoren und sitze einer Mutter gegenüber, die mit ihrer kleinen Tochter telefoniert – das Mädchen beschwert sich offenbar darüber, dass sie in der Schule einen anstrengenden Tag hatte, woraufhin die Mutter sie mit der Aussicht auf eine Überraschungs-Basteltüte tröstet. Mein inneres Kind denkt neidisch: Ich will auch eine Überraschungs-Basteltüte!  

 

Über Tellerreiben,  Zitronenstöpsel und Staubwedel

Die Haushaltswaren sind nochmal ein ganz eigenes Terrain. Ich komme an einem Stand vorbei, an dem spezielle Teller verkauft werden, die gleichzeitig eine Reibe sind. Dort spricht mich sogleich eine Besucherin an und wirbt anstelle der Verkäuferin für die Keramikteller: Die sind einfach super, die muss man haben, mal schnell Parmesan reiben – kein Problem! Durch das Reiben kommt das Aroma noch intensiver hervor, Knoblauch, Zitronen, alles, einfach drauflos, und so leicht zu reinigen der Teller, einfach prima, klare Kaufempfehlung. Währenddessen lächelt mich die Verkäuferin an: Zumindest hat sie sich ein Verkaufsgespräch gespart.

Ich gehe ein paar Gänge weiter und lande bei einem Stand voller Bürsten und Staubwedel. Die Verkäuferin wiederholt immer wieder die gleichen Phrasen, man muss nur lange genug dort stehen bleiben: Ein Staubwedel aus Straußenfedern hält den Staub viel besser als jeder Swiffer, einmal draußen ausklopfen, kein Problem. Der Swiffer dagegen verteilt Staub eher, denn die Struktur der Kunstfasern ist nicht so fein verästelt wie jene der Federn aus Naturfasern. Auch Ziegenhaare sind super gegen Hausstaub – rundum an langen Stäben befestigt werden sie zum perfekten Reiniger für Staub hinter den Heizungen. Weniger Staub gleich bessere Heizleistung. Eine Anschaffung fürs Leben! Nie wieder Swiffer kaufen!   

Mich überzeugt sie. Hätte ich mehr Geld, ich hätte sofort einen Straußen-Staubwedel gekauft. Vielleicht könnte ich mir damit ersparen, meine Oberflächen mit dem feuchten Mikrofasertuch abzuwischen. Swiff swiff, aber ohne Umweltverschmutzung. Und ohne dass es uns all Staub nimmt, der im Sommer so romantisch durch die Luft schwebt und glitzert, wie wenn im Theater ein Scheinwerferlicht die Dunkelheit durchbricht. 

Der letzte bemerkenswerte Aussteller ist der – wie ich ihn taufe – Zitronenstöpsel-Stand. Auch hier ertönt wieder dieser Loop aus Verkaufsphrasen. Plötzlich fühle ich mich, als wäre ich in eine Tupperparty eingetaucht. Oder in eine Hausfrauen-Werbung der 50er Jahre. Überall um mich herum stehen Frauen mittleren Alters, irgendwie ein komisches Klischee, aber hier in der Haushaltswarenabteilung erscheint mir das noch viel evidenter zu sein als in den anderen Bereichen der Messe. Andererseits stehe ich ja auch hier und finde es unterhaltsam anzuhören, was der Mann zu dem Zitronenstöpsel zu sagen hat.

Der Zitronenstöpsel: Er ist geformt wie ein Stöpsel, nur dass oben ein kleiner Klappdeckel angebracht ist. Anhand einer echten Zitrone demonstriert der Verkäufer, dass er den Stöpsel einfach nur an der Blütenseite der Frucht eindreht wie eine Schraube: Stöpsel drehen, bis es nicht weitergeht, danach Deckel aufklappen und Zitronensaft – ganz ohne Kerne – ausgießen, so viel wie benötigt. Wenn fertig – einfach Deckel zuklappen. Kinderleicht. Zitrone bleibt tagelang frisch, weil sie ja nicht aufgeschnitten, sondern nur eingedreht wurde. Stöpsel bleibt einfach stecken, bis Zitrone leer ist. Wie eine dieser zitronenförmigen Plastikflaschen, die es im Supermarkt gibt. Nur mit echter Zitrone.

Als der Loop wieder von vorne beginnt, gehe ich weiter und beobachte noch viele andere wundersame Dinge. Manchmal darf ich auch was probieren. Aber eigentlich will ich weitergehen.

 

Glas-Mosaik

Dieser Artikel ist nun genauso überwältigend lang geworden, wie die Messe mir vorgekommen ist. Aber keine Sorge, wir sind nun am letzten Stand angekommen, der mich begeistern kann: Der Aussteller mit den Glas-Mosaiken. Am liebsten würde ich hier einen Workshop mitmachen, doch ich bin müde, habe nicht mehr viel Zeit und möchte ja eigentlich auch keinen vorgefertigten Glas-Schmetterling machen, sondern lieber ein ganz eigenes Motiv zaubern. Und im Grunde bin ich schon fasziniert, als ich nur ein Beutelchen in die Hand nehme, das bis zum Rand mit bunten Glasscherben gefüllt ist. Sofort bekomme ich Lust, die bunten Plättchen zu einem kleinen Kunstwerk zurechtzulegen.

Ich lasse mich also ausführlich von einem älteren Herrn beraten: Er erzählt mir etwas über das Mosaik-Handwerk, die Tiffany-Glas und über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten beim Legen von Glas-Mosaiken. Die Utensilien sind – bis auf das Werkzeug zum Schneiden von Glas – nicht teuer, sodass ich mir eine Art Starter-Set zusammensuche und mich tierisch darauf freue, zuhause direkt loszulegen.  

 

Nach der Messe ist vor der Messe

Die Rückfahrt gemeinsam mit Susanne ist kurzweilig. „Lass dich drücken!“, sagt sie, als wir am Essener Hauptbahnhof ankommen. Auf die Idee hätte ich auch kommen können! Wir verabschieden uns also mit einem beherzten Drücker voneinander, bevor sich unsere Wege trennen. Die unerwartete Begegnung mit ihr war sehr schön und ich glaube, wir gehen beide inspiriert nach Hause. Susanne hat für den nächsten Tag sogar noch eine Eintrittskarte.

Ich für meinen Teil bemerke vor allem im Nachhinein, wie inspirierend die Messe tatsächlich ist – schon allein dadurch, dass man so unendlich viele Eindrücke sammelt. Die Creativa hat trotz des Schwerpunktes auf dem Verkauf etwas sehr Tatkräftiges: Die Leute vor Ort erschaffen etwas, arbeiten mit verschiedenen Materialien und setzen ihre Ideen in die Tat um. Das macht mir unfassbar viel Lust darauf, selbst tätig zu werden: Neues auszuprobieren und meine Eindrücke zu verarbeiten.

Nächstes Jahr möchte ich erneut herkommen. Und da ich diesmal weiß, was mich erwartet, kann ich viel gezielter an mein Erlebnis herangehen und das mitnehmen, was mich am meisten inspiriert.