Rezension zu "Der Markisenmann" von Jan Weiler

Wunderschöner Sommerroman mit Ruhrpott-Romantik
  • 4 Min. Lesezeit
  • 6. Dezember 2023
  • Sonja

Rezension zum Coming-of-Age Roman Der Markisenmann von Jan Weiler. Ein wunderschöner Ruhrgebiets-Sommerroman. 

Kann man irgendwo in Duisburg unvergessliche Sommerferien erleben? Und wie ist es, nach Jahren ohne Kontakt wieder Zeit mit dem eigenen Vater zu verbringen? In meiner Rezension zu Der Markisenmann erfährst du, was den Roman von Jan Weiler lesenswert macht. 

Es war einer dieser Tage, an denen ich mir am Hauptbahnhof die Zeit vertrieb. Natürlich war es naiv zu glauben, dass ich die Bahnhofsbuchhandlung ohne ein Buch in der Hand verlassen würde. Und so kam es, wie es kommen musste: Ich hielt Der Markisenmann von Jan Weiler in den Händen.

Ich weiß nicht genau, was mich zum Kauf bewegte. Vielleicht war es das seltsame Cover: Nicht schön und doch faszinierend. Das Papier erinnert sofort an verblichene, unmoderne Stoffmuster aus einer anderen Zeit. Nachdem ich ein wenig in den Roman hineingeblättert hatte, spürte ich sofort, dass es ein wunderbar melancholisches Sommerbuch sein muss – flirrend heiß und unwirklich.

Rezension zu Der Markisenmann: Im Sommer 2005 irgendwo in Duisburg-Meiderich

Nach einem Unglück wird die fünfzehnjährige Kim von ihren Eltern dazu verdonnert, die Sommerferien bei ihrem Vater zu verbringen. Es ist das erste Mal, dass sie ihren Vater kennenlernt – bisher war er für Kim immer nur „der Unscharfe“, von dem ihre Mutter nichts erzählte und den sie sich im Laufe ihres Lebens in jeglichen Farben und Formen vorgestellt hat.

Natürlich ist Ronald Papen dann ganz anders als erwartet. Er lebt seit Jahren in einer Lagerhalle im Duisburger Hafen mit einem riesigen Bestand an alten DDR-Markisen, die er vergeblich zu verkaufen versucht. Doch während Kim einen möglichst schönen Sommer in Duisburg-Meiderich verbringen möchte, kommen sich Vater und Tochter immer näher – und das nicht zuletzt durch die verstaubten DDR-Markisen. 

Aufgeladen mit Sommerhitze und Ruhrpott-Romantik

Obwohl ich das Buch direkt als Sommerlektüre identifizierte, habe ich den Roman erst im Herbst gelesen. Sofort wurde ich in jene Sommermonate zurückversetzt, in denen ich mich so oft nach einer schützenden Markise gesehnt habe. Statt in dem eisigen Wind zu frösteln, der vor meinem Fenster tobte, konnte ich auch jetzt noch den heißen Asphalt und die schwüle Luft der Stadt spüren.

Was ich beim Kauf nicht bemerkt hatte: Die Geschichte um Kim und ihren Vater Ronald spielt nicht etwa an einem typischen Urlaubsort, sondern irgendwo im Nirgendwo des sommerlichen Duisburgs. Zusammen mit der Protagonistin, die sich zunächst gegen ihren neuen Aufenthaltsort sträubt, spüre ich das ersehnte Sommergefühl auch am verschmutzten Rhein-Herne-Kanal aufkommen. Gerade das ist es, was mich an diesem Roman so begeistert: dass ein völlig unterschätzter Ort unter den richtigen Umständen zur Oase wird.

Jan Weilers Roman über einen schrägen Sommerurlaub

Zusammen mit Alik, einem jungen Mitarbeiter auf dem Schrottplatz, entdeckt Kim die Ruhe am Hafen für sich und lernt ihren Vater und sein Umfeld näher kennen. Die Menschen im Ruhrgebiet verfügen Kim zufolge über mehr Bodenhaftung, sie könnten sich besser an der Erde festhalten, wenn es zum physikalischen Untergang käme. Dieses Gefühl kommt wohl daher, dass der Alltag am Hafen so wunderbar unaufgeregt ist:

Es gab nichts Dringliches in diesem Leben. Nichts hatte Eile, wir spürten weder Sorgen, noch machten wir uns Gedanken um etwas anderes als die Dinge, mit denen wir uns gerade beschäftigten. Es war so, wie man sich den idealen Urlaub vorstellt.

Die Protagonistin vertreibt sich ihre Langeweile, indem sie mit Alik eine Outdoor-Kneipe aufbaut oder die Asphalt-Pfütze vor der Lagerhalle gießt. Trotz dieser ruhigen Atmosphäre bleibe ich als Leserin gespannt, was es mit Ronald Papen und seinen Markisen auf sich hat.

Einfühlsame Vater-Tochter-Beziehung

Der bis dahin unscharfe Vater wird im Laufe der Zeit zu jemand Konkretem, zu einem Menschen mit Fehlern und Macken, wie jeder sie hat. Bei ihrem Vater entdeckt Kim ein ganz neues, verwackeltes Gefühl von Fürsorge und Rücksichtnahme, das von der fließenden und klaren Sprache des Autors wunderschön herübergebracht wird.

Er drehte sein Gesicht zu mir und lächelte. Und ich, seine Tochter, ihm aus dem Gesicht geschnitten und genauso hilflos dem Leben ausgeliefert, so ohne Waffen und Panzer und Visier, sah ihn an und erkannte mich selbst.

Zugegeben, manchmal hätte ich mir etwas mehr Kommunikation zwischen den Protagonisten gewünscht – nicht nur zwischen Kim und ihrem Vater, sondern auch in Gesprächen mit Alik oder dem Rest ihrer Familie. Daher konnte mich der zweite Teil des Romans, bei dem es sich überwiegend um eine grobe Nacherzählung der folgenden Ereignisse handelt, nicht wirklich überzeugen. Das Ende des Romans wirkte dadurch leider etwas forciert und nahm der tatsächlichen Romanhandlung ihren melancholischen Zauber.

Dennoch hinterlässt der Coming-of-Age Roman vor allem warme Gefühle in mir. Was ich selbst immer wieder so faszinierend am Ruhrgebiet, seinen Industrieorten und den hier lebenden Menschen finde, fasst er perfekt in Worte. Zugleich erzählt Jan Weiler auf subtile und einfühlsame Weise von einer ungewöhnlichen Vater-Tochter-Beziehung.

‚Das ist der Rhein-Herne-Kanal‘, sagte Papen. ‚Und wenn du nach rechts guckst, da vorne, da fließt die Ruhr in den Rhein. Weit dahinten.‘
Den Rhein kannte ich.
‚Schön, oder?‘
Merkwürdigerweise war es das. Dieser Ort war weder Florida noch Mallorca, im Grunde war es überhaupt kein Ort. Vor uns im Kanal dümpelte ein alter Kahn herum, und die Mücken tanzten vor meinem Gesicht Lambada. Außerdem war mir wegen unseres Gespräches und meiner Schuld, meiner bis an das Ende meiner Tage geltenden Schuld, schlecht. Aber auf eine ganz bezaubernde Weise war dieser Ort friedvoll, sicher und bei aller Brüchigkeit des Anlegers, auf dem wir standen, im dunkler werdenden Sonnenlicht tatsächlich: schön.

Ein wunderbarer Ruhrgebiets-Sommerroman

Rezension zu Jan Weilers "Der Markisenmann"

  • 6. Dezember 2023 – 4 Min. Lesezeit

Rezension zum Coming-of-Age Roman Der Markisenmann von Jan Weiler. Ein wunderschöner Ruhrgebiets-Sommerroman. 

Kann man irgendwo in Duisburg unvergessliche Sommerferien erleben? Und wie ist es, nach Jahren ohne Kontakt wieder Zeit mit dem eigenen Vater zu verbringen? In meiner Rezension zu Der Markisenmann erfährst du, was den Roman von Jan Weiler so lesenswert macht. 

Es war einer dieser Tage, an denen ich mir am Hauptbahnhof die Zeit vertrieb. Natürlich war es naiv zu glauben, dass ich die Bahnhofsbuchhandlung ohne ein Buch in der Hand verlassen würde. Und so kam es, wie es kommen musste: Ich hielt Der Markisenmann von Jan Weiler in den Händen. Ich weiß nicht genau, was mich zum Kauf bewegte. Vielleicht war es das seltsame Cover: Nicht schön und doch faszinierend. Das Papier erinnert sofort an verblichene, unmoderne Stoffmuster aus einer anderen Zeit. Nachdem ich ein wenig in den Roman hineingeblättert hatte, spürte ich sofort, dass es ein wunderbar melancholisches Sommerbuch sein muss – flirrend heiß und unwirklich.

 

Rezension zu „Der Markisenmann“: Im Sommer 2005 irgendwo in Duisburg-Meiderich

Nach einem Unglück wird die fünfzehnjährige Kim von ihren Eltern dazu verdonnert, die Sommerferien bei ihrem Vater zu verbringen. Es ist das erste Mal, dass sie ihren Vater kennenlernt – bisher war er für Kim immer nur „der Unscharfe“, von dem ihre Mutter nichts erzählte und den sie sich im Laufe ihres Lebens in jeglichen Farben und Formen vorgestellt hat.

Natürlich ist Ronald Papen dann ganz anders als erwartet. Er lebt seit Jahren in einer Lagerhalle im Duisburger Hafen mit einem riesigen Bestand an alten DDR-Markisen, die er vergeblich zu verkaufen versucht. Doch während Kim einen möglichst schönen Sommer in Duisburg-Meiderich verbringen möchte, kommen sich Vater und Tochter immer näher – und das nicht zuletzt durch die verstaubten DDR-Markisen. 

 

Aufgeladen mit Sommerhitze und Ruhrpott-Romantik

Obwohl ich das Buch direkt als Sommerlektüre identifizierte, habe ich den Roman erst im Herbst gelesen. Sofort wurde ich in jene Sommermonate zurückversetzt, in denen ich mich so oft nach einer schützenden Markise gesehnt habe. Statt in dem eisigen Wind zu frösteln, der vor meinem Fenster tobte, konnte ich auch jetzt noch den heißen Asphalt und die schwüle Luft der Stadt spüren.

Was ich beim Kauf nicht bemerkt hatte: Die Geschichte um Kim und ihren Vater Ronald spielt nicht etwa an einem typischen Urlaubsort, sondern irgendwo im Nirgendwo des sommerlichen Duisburgs. Zusammen mit der Protagonistin, die sich zunächst gegen ihren neuen Aufenthaltsort sträubt, spüre ich das ersehnte Sommergefühl auch am verschmutzten Rhein-Herne-Kanal aufkommen. Gerade das ist es, was mich an diesem Roman so begeistert: dass ein völlig unterschätzter Ort unter den richtigen Umständen zur Oase wird.

 

Ein etwas schräger Sommerurlaub

Zusammen mit Alik, einem jungen Mitarbeiter auf dem Schrottplatz, entdeckt Kim die Ruhe am Hafen für sich und lernt ihren Vater und sein Umfeld näher kennen. Die Menschen im Ruhrgebiet verfügen Kim zufolge über mehr Bodenhaftung, sie könnten sich besser an der Erde festhalten, wenn es zum physikalischen Untergang käme. Dieses Gefühl kommt wohl daher, dass der Alltag am Hafen so wunderbar unaufgeregt ist:

Es gab nichts Dringliches in diesem Leben. Nichts hatte Eile, wir spürten weder Sorgen, noch machten wir uns Gedanken um etwas anderes als die Dinge, mit denen wir uns gerade beschäftigten. Es war so, wie man sich den idealen Urlaub vorstellt.

Die Protagonistin vertreibt sich ihre Langeweile, indem sie mit Alik eine Outdoor-Kneipe aufbaut oder die Asphalt-Pfütze vor der Lagerhalle gießt. Trotz dieser ruhigen Atmosphäre bleibe ich als Leserin gespannt, was es mit Ronald Papen und seinen Markisen auf sich hat.

 

Einfühlsame Vater-Tochter-Beziehung

Der bis dahin unscharfe Vater wird im Laufe der Zeit zu jemand Konkretem, zu einem Menschen mit Fehlern und Macken, wie jeder sie hat. Bei ihrem Vater entdeckt Kim ein ganz neues, verwackeltes Gefühl von Fürsorge und Rücksichtnahme, das von der fließenden und klaren Sprache des Autors wunderschön herübergebracht wird.

Er drehte sein Gesicht zu mir und lächelte. Und ich, seine Tochter, ihm aus dem Gesicht geschnitten und genauso hilflos dem Leben ausgeliefert, so ohne Waffen und Panzer und Visier, sah ihn an und erkannte mich selbst.

Zugegeben, manchmal hätte ich mir etwas mehr Kommunikation zwischen den Protagonisten gewünscht – nicht nur zwischen Kim und ihrem Vater, sondern auch in Gesprächen mit Alik oder dem Rest ihrer Familie. Daher konnte mich der zweite Teil des Romans, bei dem es sich überwiegend um eine grobe Nacherzählung der folgenden Ereignisse handelt, nicht wirklich überzeugen. Das Ende des Romans wirkte dadurch leider etwas forciert und nahm der tatsächlichen Romanhandlung ihren melancholischen Zauber.

Dennoch hinterlässt der Coming-of-Age Roman vor allem warme Gefühle in mir. Was ich selbst immer wieder so faszinierend am Ruhrgebiet, seinen Industrieorten und den hier lebenden Menschen finde, fasst er perfekt in Worte. Zugleich erzählt Jan Weiler auf subtile und einfühlsame Weise von einer ungewöhnlichen Vater-Tochter-Beziehung.

‚Das ist der Rhein-Herne-Kanal‘, sagte Papen. ‚Und wenn du nach rechts guckst, da vorne, da fließt die Ruhr in den Rhein. Weit dahinten.‘
Den Rhein kannte ich.
‚Schön, oder?‘
Merkwürdigerweise war es das. Dieser Ort war weder Florida noch Mallorca, im Grunde war es überhaupt kein Ort. Vor uns im Kanal dümpelte ein alter Kahn herum, und die Mücken tanzten vor meinem Gesicht Lambada. Außerdem war mir wegen unseres Gespräches und meiner Schuld, meiner bis an das Ende meiner Tage geltenden Schuld, schlecht. Aber auf eine ganz bezaubernde Weise war dieser Ort friedvoll, sicher und bei aller Brüchigkeit des Anlegers, auf dem wir standen, im dunkler werdenden Sonnenlicht tatsächlich: schön.